Die Suppe

Eines Tages kommt eine ältere Dame in die Kantine. Sie findet sich nicht gut zurecht, aber sie holt dann eine Gulaschsuppe, geht zurück zu einem freien Tischchen, stellt die Suppe auf den Tisch und merkt, dass sie den Löffel vergessen hat, sie geht zurück und holt den Löffel, und wie sie an ihr Tischchen zurückkommt, sitzt da ein baumlanger Neger und isst ihre Suppe. Die Frau setzt sich völlig verschüchtert an den Tisch, versuchte mit dem Schwarzen zu sprechen, er versteht kein Wort, und die Frau langt mit dem Löffel über den Tisch und isst jetzt auch von ihrer Suppe.

 

Jetzt schiebt der Schwarze den Topf in die Mitte, und sie essen gemeinsam. Sie lächeln sich zu, und die anderen Leute in der Kantine beobachten das seltsame Paar, das aus einem Topf isst. Der Schwarze steht auf, holt ein Schnitzel mit Pommes frites und stellt auch das in die Mitte , und die alte Frau ist nun entschädigt für ihren Verlust, und sie essen gemeinsam aus demselben Teller und lächeln sich zu und freuen sich.

 

Wie der Teller leer ist, steht der Schwarze auf, nickt der Frau freundlich zu und geht. Den Zuschauern ist noch aufgefallen, dass er das Lokal sehr schnell verliess. Nach ein paar Sekunden schreit die Frau auf und ruft: „Meine Handtasche ist weg, und mein Mantel!“, und ein paar rennen dem Schwarzen nach, aber sie finden ihn nirgends mehr, und schon ruft man die Polizei, und alle sind entsetzt, und die alte Frau ist verzweifelt.

 

Da sagt jemand: „Aber am Tisch hinter ihnen ist ja ein Mantel und eine Handtasche“, und es ist wirklich die Handtasche der alten Frau, und auf dem Tisch steht noch ihre Suppe. Sie hatte den Tisch verwechselt, und nicht der Schwarze hatte ihre Suppe gegessen, sondern sie die Suppe des Schwarzen … und sein Menu.

 

Schade, dass der Schwarze das Ende der Geschichte nicht mitbekommen hat – aber es hätte ihn wohl nicht überrascht. Er gehört offensichtlich zu denen, die eine Suppe teilen können, er gehört offensichtlich zu denen, die Menschlichkeit ihrem eigenen Recht vorziehen. Er gehört offensichtlich zu denen, die nicht in jedem Menschen einen potentiellen Feind sehen, zu denen, die nicht in einem Sicherheitssystem ersticken wollen.

 

Peter Bichsel